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Aktuelle Meldung



17.10.2008 - Kategorie: ELKRAS, LD online

LD online: Leben in doppelter Diaspora




»Polnische« Lutheraner in der sibirischen Taiga

 

von Thomas Graf Grote

 

Auszug aus dem »Lutherischen Dienst« 4/2008



Lutherischer Dienst 4/2008

Alt und Jung unter einem Dach – Foto: Grote

Das erste Zeltlager für Jugendliche, das auch mit Mitteln aus der Konfirmandengabe des Martin-Luther-Bundes gefördert wurde, war ein voller Erfolg. – Foto: Grote

Der harte Winter in Sibirien hat auch malerische Seiten. – Foto: Grote

Vier Autostunden von Irkutsk und 80 Kilometer von der Transsibirischen Eisenbahn entfernt liegen drei ungewöhnliche Dörfer – mitten in der sibirischen Taiga. Die Straße dorthin ist auf den letzten 70 Kilometern erst seit kurzem befestigt, so dass die kulturellen und sozialen Besonderheiten lange Zeit gut geschützt im Wald verborgen blieben. Die drei Dörfer fallen dem Besucher gleich auf, denn die Architektur der alten Holzhäuser mit Wohnraum, Stall und Kochküche unter einem Dach ist in ganz Sibirien sonst nicht zu finden. Die Menschen dort leben bewusst in den Traditionen ihrer Väter, die als Lutheraner vor genau 100 Jahren ihre Häuser in den unberührten Wald stellten. Anders als die anderen lutherischen Gemeinden sind sie freiwillig nach Sibirien gekommen. Ihre Vorfahren stammen aus einer der vier deutschen Kolonien in Wolhynien (heutige Westukraine/Südpolen), den »Bug-Holländern«, die sich dort vermutlich Ende des 16. bzw. Anfang des 17. Jahrhunderts aus Preußen kommend niedergelassen und die Dörfer Neubrau und Neudorf am Fluss »Bug« gegründet haben.

 

Die Bezeichnung »Holländer« lässt nicht unbedingt auf ihre Nationalität schließen, denn weder Traditionen, Sprache, Namen oder Glaube sind typisch für Holländer, sondern sie kommt wahrscheinlich vom Altdeutschen Wort »Hauländer« (die, die sich durch Waldhauen ihr Land urbar machten). Anfang des 18. Jahrhunderts wurde die deutsche Sprache weitestgehend aufgegeben. Man sprach nur noch Polnisch, was sich dahingehend auswirkte, dass auch die lutherischen Gottesdienste in dieser Sprache gehalten wurden und 1738 Bibeln, Gesang- und Gebetsbücher auf Polnisch gedruckt wurden. Nach der Teilung Polens 1795 kamen diese Dörfer unter russische Herrschaft. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde es durch zunehmende Landknappheit immer schwieriger, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und so folgten 1908–1912 ca. 400 Menschen im Zuge der Stolypinschen Agrarreform dem Aufruf des Zaren, sich Land in der sibirischen Taiga nutzbar zu machen. Die älteren Bewohner sprechen auch heute noch ein Gemisch aus Polnisch und Ukrainisch, in ihren Pässen stand lange noch die Nationalität deutsch, und sie treffen sich sonntags wie ehedem zum lutherischen Lesegottesdienst, wozu sie sich der alten Bibeln, Gesangbücher und Lesepredigten von 1738 bedienen. Geleitet werden diese Gottesdienste von Roman und Adolf, beide über 80 Jahre alt. Sie erkennen, dass die »Jugend« nicht mehr polnisch spricht und damit die Gefahr besteht, dass das Dorf seinen lutherischen Glauben verliert, weil keiner mehr versteht, was gebetet und gelesen wird. Die jüngeren Generationen sind inzwischen Russen mit alten lutherischen Traditionen. Viele sind auf der Suche nach Arbeit erfolgreich in die umliegenden Städte Irkutsk, Tulun und Bratsk ausgewandert, aber nach wie vor stehen sie noch in engem Kontakt zu ihren Verwandten und schicken ihre Kinder in den Sommerferien in ihre Heimatdörfer.

 

Mit der Perestroika hat man angefangen, sich seiner Geschichte bewusst zu werden, hat die Wurzeln der Herkunft erforscht und ein kleines Heimatmuseum eingerichtet, in dem die alten Handwerkszeuge und Bilder zu besichtigen sind. Es entstand Briefwechsel zu Verwandten, die noch in Wolhynien geblieben waren, und auch zu denen, die während des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland geflüchtet waren. Mit langer Vorbereitung wurde am 5. Juli 2008 das 100-jährige Bestehen der Gemeinde gefeiert. Jung und Alt war eingebunden. Historiker aus Russland und Deutschland suchten in Archiven von Irkutsk, St. Petersburg und Deutschland und sammelten Informationen zur Geschichte der Auswanderung nach Sibirien und stellten sie in einem Jubiläumsbuch zusammen. Zur Feier wurden zwei Denkmalsteine in schwarzem Marmor am Dorfeingang von Sredny aufgestellt. Einer für die vier Erstbesiedler und einer für die Opfer der Repression, der Arbeitsarmee und des Krieges. Letzterer weist mit dem Vers »Ein feste Burg ist unser Gott« und dem Kreuz auf den Lebensgrund der Bevölkerung von Pichtinsk, Dagnik und Sredny hin. Bruder Adolf las bei der Einweihung des Gedenksteins auf polnisch einen Psalm, und gemeinsam betete die Gemeinde das »Vater unser« auf russisch. Zweifellos haben die Vorbereitungen der Jubiläumsfeier dazu beigetragen, auch bei der Jugend das Interesse an der eigenen Geschichte zu stärken. Man erkannte, dass zwar praktisch alle lutherisch getauft sind, aber eigentlich keiner mehr so recht weiß, was das eigentlich bedeutet.

 

Seit 1994 hatte ein katholischer Priester, Pater Ignatius, die Dörfer regelmäßig besucht. Man nahm ihn gerne auf, weil er mit den Alten auf polnisch beten und singen konnte, und über zwölf Jahre war er im Dorf ein von allen geliebter Freund und Seelsorger für Jung und Alt. Dabei war er sehr einfühlsam und akzeptierte, dass die Bewohner lutherisch bleiben wollten. Er reichte zum Abendmahl Brot und Wein und taufte nicht, sondern überließ dies den beiden »Dorfgeistlichen«. Pater Ignatius kaufte eines der alten Häuser in Pichtinsk und baute es zu einer Kapelle aus. Leider musste er 2006 Irkutsk verlassen, und seine Nachfolger übernahmen den Dienst in den drei Dörfern. Mit der neuen Visa-Regelung hatten die polnischen Priester jedoch nur noch sehr schwer Zugang zu den Einheimischen, weil sie alle drei Monate Russland verlassen mussten und der persönliche Kontakt immer mehr abbrach. In dieses entstehende Vakuum wurde ich Anfang 2008 als lutherischer Pastor der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Ural, Sibirien und Ferner Osten (ELKUSFO) in Schelechov bei Irkutsk gefragt, ob ich bereit sei, beim Wiederaufbau der lutherischen Gemeinde in den drei Dörfern zu helfen.

 

Diese Anfrage habe ich gerne aufgenommen und fahre seitdem regelmäßig nach Pichtinsk und suche den Kontakt zur Bevölkerung. Mit den Alten nehme ich gelegentlich an den polnischen Gottesdiensten teil und besuche sie unter der Woche. Sie sind dankbar für die Umstellung der Gottesdienste auf Russisch mit den Kindern und Jüngeren, weil sie einsehen, dass die Jugend sonst das Interesse am Glauben gänzlich verliert. Die mittlere Generation ist sehr eingespannt in die tägliche Arbeit, ist jedoch sehr offen und interessiert am lutherischen Glauben. Mit ihnen habe ich abendliche Gesprächsrunden und seelsorgerliche Gespräche. Als Hauptkontaktpersonen sind zum einen der größte Landwirt in Sredny, Aleksej mit Frau, sowie die Schulleiterin in Pichtinsk zu nennen, zu denen sich ein sehr freundschaftliches Verhältnis entwickelt hat.

 

Die Kinder und Jugendlichen haben gute Grundkenntnisse der Bibel und der Liturgie von den Katholiken mitbekommen, die auf sehr einfühlsame Weise den dortigen Menschen in ihren geistlichen Fragen helfen. Sowohl der Bischof als auch die Nachfolger von Pater Ignatius nennen die Gemeinde lutherisch und unterstützen mich mit Rat und Tat, dort wieder eine lutherische Gemeinde aufzubauen. Vom 15. bis 24. August haben wir mit acht Mitarbeitern aus unserer Schelechover Gemeinde unser erstes Zeltlager am Flussufer von Pichtinsk veranstaltet, zu dem 30 Kinder aus den Dörfern Pichtinsk und Sredny kamen. Dies war, weil sehr nahe am Dorf gelegen, eine sehr wirkungsvolle Sache, weil wir ständig Besuch von interessierten Eltern hatten, was neue Kontakte und Gespräche ermöglichte. Die Jugendlichen von Schelechov und diejenigen der Dörfer haben schnell zueinander gefunden, so dass wir die Kontakte zwischen den Gemeinden nun schrittweise weiter ausbauen können. In den Wintermonaten, in denen die Feldarbeit ruht, wollen wir die bisher nur auf polnisch gesungenen Lieder auch auf russisch einüben und die Katechesegespräche weiter intensivieren.

 

Thomas Graf Grote ist Pfarrer in Irkutsk.

 

Auszug aus dem »Lutherischen Dienst« 4/2008. Wenn Sie die weiteren Artikel – etwa über Anne Burghardt, Pfarrerin in Estland, über den gerade zu Ende gegangenen Sprachkurs in der Erlanger Zentralstelle des Martin-Luther-Bundes, über das »Haus der Hoffnung« in Brasilien oder über den Dienst von Pfarrer Heye Osterwald in Ostpreußen – lesen möchten, bestellen Sie den » Lutherischen Dienst kostenlos.