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29.05.2007 - Kategorie: Estland, LD online

LD ONLINE: Wovon sich zu erzählen lohnt




Mein Leben mit Estland

 

von Paul-Gerhard von Hoerschelmann

 

Auszug aus dem »Lutherischen Dienst« 2/2007, Sondernummer »Estland«.



LD 2/2007 – Sondernummer »Estland«

Blick auf die Unterstadt von Tallinn – Foto: Harder

Die Nikolaikirche in Tallinn – Foto: Harder

Das alte Heilig-Geist-Hospital von 1332 beherbergt jetzt das Theologische Institut und das Pastoralseminar in Tallinn. – Foto: von Hoerschelmann

Semesterabschlussgottesdienst am 7. Juli 2000 im Tallinner Dom. V.l.n.r.: Erdel Absalo, Paul-Gerhard von Hoerschelmann, Tiit Pädam, Randar Tasmuth und Ove Sander. – Foto: von Hoerschelmann

Am 5. März 2007 fanden in Estland Parlamentswahlen statt. Gesiegt hat die rechtsliberale Partei vor der linken Zentrumspartei, eine Bestätigung fĂĽr den bisherigen Ministerpräsidenten Ansip und seine Politik. Ansip war zuvor BĂĽrgermeister in der Universitätsstadt Tartu/Dorpat und hat Entscheidendes zum Wiederaufbau der Jaani-/Johannes-Kirche beigetragen. Die nordelbischen und anderen Partner, z.B. LĂĽneburg, erinnern sich gerne an die konstruktive Zusammenarbeit. Inzwischen ist die Jaani-Kirche im Juni 2006 eingeweiht worden und beherbergt u.a. die Universitätsgemeinde. Auch der kĂĽrzlich gewählte neue Staatspräsident, Toomas Hendrik Ilves, ist ein GlĂĽcksfall fĂĽr das Volk, aber auch die Kirche. Seinen Segen erhielt er in der größten Tallinner Kirche, der Kaarli-/Karls-Kirche unterhalb des Domberges. Dort begrĂĽĂźte ihn Erzbischof Andres Põder mit der Gemeinde und Pastorenschaft.

 

Staat und Gesellschaft heute

Dem estnischen Staat und seinen Kommunalkörperschaften ist viel an der Erhaltung der historischen Gebäude gelegen. Die Denkmalpflege-Bewegung spielte schon eine wichtige Rolle bei der Wiederbefreiung des Landes. Es geht um Kontinuität und Identität. Nun, da mehr Geld in den Staatskassen vorhanden ist, können auch die Kirchen Hilfe erhalten. So erstrahlen nicht nur die Kirchengebäude und TĂĽrme der Hauptstadt in neuem Glanz, sondern soll auch als nächstes die groĂźe, im Krieg schwer zerstörte Alexander-Kirche in Narva wieder aufgebaut werden. Dies ist in einer Stadt mit etwa 5 % estnischer Bevölkerung und einer russischsprachigen Mehrheit auch ein Zeichen estnischer Selbständigkeit und Einladung zum Glauben. Vor allem Narva, aber auch andere Gebiete, betrifft zudem ein besonderes Problem, nämlich AIDS. Die Zahl der Infektionen ist in Estland erschreckend hoch. Die Estnische Evangelisch-Lutherische Kirche (EELK) hat deshalb zusammen mit dem Ă–kumenischen Rat der Kirchen in Estland und der Partnerkirche in Kurhessen-Waldeck zu einer Aktion aufgerufen, die diese gefährliche Entwicklung bewusst machen und eindämmen will. Es ist wohl das erste Mal, dass die EELK sich an einem solchen größeren gesellschaftlichen Projekt beteiligt.

 

Theologische Ausbildung in Tallinn

Die erste AIDS-Konferenz fand im Mai 2006 unmittelbar vor der Feier des 60-jährigen Bestehens des Theologischen Institutes der EELK in Tallinn/Reval statt. Dieses Jubiläum war ein weiteres wichtiges Ereignis der jĂĽngeren Vergangenheit. In den Jahren 1994 bis 1998 war ich selbst dort tätig, habe das Pastoralseminar/Predigerseminar aufgebaut und wurde auch im Ăśbergang mit den Aufgaben des Rektors betraut. Schon zuvor im September 2005 feierte das Pastoralseminar eindrucksvoll sein zehnjähriges Bestehen, und im Jahr darauf konnte das Theologische Institut auf sein langjähriges und segensreiches Wirken zurĂĽckblicken. In diesem Zusammenhang wurde Dr. Woldemar Ilja und mir – als frĂĽheren Rektoren – die Ehrung durch Ernennung zu Titularpröpsten der EELK zuteil – ein Ausdruck der Dankbarkeit und Verbundenheit und zugleich Ermutigung zur weiteren Zusammenarbeit als Botschafter der EELK, besonders in Sachen Ausbildung des theologischen Nachwuchses.

So freut es mich besonders, dass das Theologische Institut seit dem 13. 12. 2006 in Prof. Dr. Lic. theol. Randar Tasmuth wieder einen neuen/alten Rektor hat. Kurz vor Weihnachten wurde er in der Heilig-Geist-Kirche durch Erzbischof Andres Põder in sein Amt eingefĂĽhrt. Randar Tasmuth war bisher Dekan der theologischen Abteilung des Theologischen Institutes und trug als Neutestamentler seit Jahrzehnten die Ausbildung maĂźgeblich. Dabei fĂĽhrte er parallel sein Studium an der Theologischen Fakultät in Helsinki weiter, legte zuerst seine LizentiatenprĂĽfung ab und promovierte dann. Jetzt hat das Theologische Institut wieder einen aus der eigenen Tradition hervorgegangenen Rektor, dem wir Gottes Segen fĂĽr diese groĂźe Aufgabe wĂĽnschen. Probleme, besonders finanzieller Art, gibt es genug, aber auch die Zuversicht, dass unter seiner Leitung die Ausbildung von Theologen und kirchlichen Mitarbeitern – zusammen mit dem Pastoralseminar, geleitet von Assessor Dr. Ove Sander – auf guten FĂĽĂźen steht. Ove Sander ist mein direkter Nachfolger im Pastoralseminar. Ich hatte gleich zu Beginn darauf Wert gelegt, dass nach mir ein Este die Aufgabe ĂĽbernehmen sollte, und bin sehr froh, dass Dr. Sander damals zugesagt hat. Wie oft in Estland ist er zugleich Pastor einer Gemeinde, die ihm und seiner Familie einen Teil des Lebensunterhaltes und eine Wohnung bietet. Seine Frau arbeitet im Seminar als seine rechte Hand mit. Z.Zt. werden im Seminar 18 Diakoninnen und Diakone – in Estland gibt es wie auch in Schweden das geistliche Amt des Diakons – auf ihre Ordination als Pastor oder »prester« – statt bisher »öpetaja« (Lehrer) – vorbereitet. Mit der Entstehung des Pastoralseminars habe ich mit meiner Nordelbischen Kirche und vielen Freunden einen Fonds zur UnterstĂĽtzung der Vikarinnen und Vikare in der Ausbildungszeit gegrĂĽndet, der noch heute seinen guten Dienst tut. Ausbildung verlangt Anerkennung.

Der EinfĂĽhrung des neuen Rektors war die Diskussion vorausgegangen, mit welcher Universität das Institut in Zukunft kooperieren solle, um das Doktorandenstudium durchzufĂĽhren. Dass eine solche Zusammenarbeit nötig ist, ergibt sich schon aus der begrenzten Zahl der Dozenten und auch der Mittel, die dazu nötig wären. Andererseits gehört zur inzwischen erfolgten staatlichen Anerkennung des Theologischen Institutes als Hochschule auch ein solcher Studiengang. Die Wahl ist auf die Theologische Fakultät in Tartu gefallen, und die Zusammenarbeit wurde auch bereits vertraglich geregelt. Der vorherige Rektor, Prof. Dr. Alar Laats, hätte das Zusammengehen mit der neu begrĂĽndeten Universität Tallinn bevorzugt. Er hat dort jetzt einen Lehrstuhl fĂĽr Religionswissenschaft ĂĽbernommen. Damit ist auch in Tallinn die theologische Stimme vertreten. Angesichts der Säkularisierung Estlands kann es nicht genĂĽgend christliche und theologische Bildungsangebote geben. Wir wĂĽnschen ihm deshalb eine segensreiche Wirkung.

 

Das Erbe der Geschichte

Seit 1991 hat die staatliche Theologische Fakultät wieder die Tore geöffnet. Man muss aber bedenken, dass die Sowjets schon 1941 bei ihrem Machtantritt alle kirchlichen Ausbildungsstätten, also auch die renommierte Tartuer/Dorpater Fakultät, schlossen, die theologischen Lehrer nach Sibirien verschleppten oder umbrachten, die Einrichtung zerstörten und die Bücher, derer sie habhaft werden konnten, verbrannten. Nur einige konnten durch mutige Mitarbeiter gerettet werden und lagerten zumeist im Turm des Tallinner Domes. Nebenan sammelten sich ab 1946 die Treuen und das Konsistorium – dies der angestammte Name für die Kirchenleitung. Es gab bald wieder einen Bischof, später Erzbischof, und unter den wachsamen Augen des Beauftragten für religiöse Angelegenheiten und des KGB ein Theologisches Institut in einem Raum neben dem Konsistorium im alten Küsterhaus auf dem Domberg.

Dort fanden sich einige Professoren und Pastoren, die bald einen Fernkurs zum Zwecke der Ausbildung des theologischen Nachwuchses einrichteten. Das geschah – und geschieht noch heute – berufsbegleitend. Die Pastoren aber waren damals aller ihrer Rechte beraubt, die Kirchen und Pastorate enteignet; die Gemeinden waren geblieben – aber immer kleiner geworden. Der spätere Rektor des Theologischen Institutes, Dr. Woldemar Ilja, beschreibt die Situation der Pastoren und Christen in damaliger Zeit als »Aussätzige« in der Gesellschaft. Das Theologische Institut, vom Staat beäugt, aber geduldet, war in dieser Zeit das geheime Herz der EELK. Mein Freund Arnold Schabert hat kĂĽrzlich die Diplomarbeit des estnischen Pastors Ăślo Vaher am Theologischen Institut ĂĽbersetzt, ergänzt und herausgegeben, in der von 67 Schicksalen deutscher und estnischer Pastoren die Rede ist, die im Zuge beider Weltkriege von den Bolschewiken ermordet, verschleppt oder ihres Glaubens wegen verfolgt wurden. Bei knapp 200 Pastoren ist das fast die Hälfte. Eine verfolgte Kirche, die mutig ĂĽberlebt hat und weiter lebt. So trägt auch die Schrift zu Recht den Titel »Nachfolge«.

Dann änderten sich die Zeiten. Schon in sowjetischer Zeit bestanden Verbindungen, besonders zwischen den estnischen und finnischen Nachbarn, ebenso nach Deutschland, dies zumeist auf persönlichen und verschlungenen Wegen – wenn ich nur an meinen verstorbenen Vetter Burchard Lieberg denke â€“, während die offizielle Evangelische Kirche in Deutschland/EKD die Verbindung zu den Orthodoxen in Moskau suchte. DafĂĽr waren die Finnen und Skandinavier und die baltischen Exilkirchen umso aktiver. Nicht hoch genug eingeschätzt werden kann der finnische Einsatz besonders fĂĽr den Wiederaufbau der Sonntagsschule in Estland mit Literatur und Ausbildungskursen. Dr. Seppo Alaja aus Finnland kam als Religionspädagoge nach Estland, um im Theologischen Institut zu arbeiten und es neu zu gestalten. Er ist dann auf tragische Weise im estnischen Winter tödlich verunglĂĽckt. Man mache sich nur klar, dass während zwei oder mehr Generationen der Religionsunterricht verboten und der Konfirmandenunterricht – viel stärker als in der damaligen DDR – unterdrĂĽckt wurde. Gelingt es erst, die nächste Generation von den Quellen des Glaubens, der eigenen Kultur und Geschichte zu trennen und das Band der Ăśberlieferung zu zerreiĂźen, dann hat der Atheismus leichtes Spiel. Der Wiederaufbau von unten ist die wichtigste Antwort.

 

Meine Geschichte

Ich selber bin noch in Estland geboren, wurde mit meiner Familie 1939 in Folge des Hitler-Stalin-Paktes nach Polen umgesiedelt und gelangte mit der Flucht schließlich nach Schleswig-Holstein. Ein Besuch in Estland im Jahr 1987 beeindruckte mich so sehr, dass ich gleich 1988 – als damaliger Direktor des Nordelbischen Predigerseminars in Breklum – eine Ausbildungspartnerschaft begann. Wir luden Gruppen von jungen estnischen Pastoren und Theologiestudenten zu uns nach Breklum ein und fuhren selbst mit Vikarsgruppen nach Estland. Ein großer Dank den Vikarinnen und Vikaren, aber auch unseren estnischen Partnern, die sich auf dieses Abenteuer – so musste man es ja anfänglich nennen – einließen. Mehrere Jahre hindurch haben wir diesen wechselseitigen Austausch vollzogen, immer einige Tage in den Gemeinden vor Ort und einige Tage im Seminar mit praktisch-theologischem Intensivkurs. Jaan Kiivit, der damalige Kurator der estnischen Ausbildung und spätere Erzbischof, war dabei. Er rief mich nach meiner Pensionierung nach Estland.

Unsere Nordelbische Kirche unterstĂĽtzte dieses Vorhaben intensiv. Mit Hilfe der Nordelbischen wie der Finnischen Lutherischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes wurde das alte Heilig-Geist-Hospital in Tallinn gekauft und zum Theologischen Institut ausgebaut. 1996 konnte es feierlich eingeweiht werden. Unter seinem Dach fanden und finden nun das Theologische Fernstudium, das Pastoral-/Predigerseminar, die Religionspädagogik, die Musikschule, die Diakonenausbildung, die EinfĂĽhrung in die christliche Kulturgeschichte, die Fortbildung und die Kirchenbibliothek ihren Platz. Mein unmittelbarer Nachfolger im Rektorenamt war Tiit Pädam, der dann Generalsekretär der EELK wurde. Z.Zt. studieren in allen Jahrgängen zusammengenommen ca. 200 Theologiestudentinnen und -studenten am Institut. Fast ein Drittel der heute Dienst tuenden Pastorinnen und Pastoren sind schon durch das Pastoralseminar gegangen.

 

Selbständigkeit als Herausforderung

Es fehlt nicht an Nachwuchs, aber an den ausreichenden Voraussetzungen zur Anstellung in den Gemeinden. Eine Kirche, die unter dem Druck der Verfolgung zu einer Minderheit im eigenen Volk geworden ist und bereits durch die orthodoxen, zumeist russischsprachigen Einwohner, ĂĽberholt wird, hat es schwer, fĂĽr ihre Mitarbeiter aufzukommen. Die Russen hatten ja in der sowjetischen Zeit eine intensive Immigrations- und Russifizierungspolitik betrieben, so dass ein Drittel der 1,5 Millionen StaatsbĂĽrger zur russischsprachigen Bevölkerung gehören. Höchstens ein Drittel der lutherischen Pastoren kann von den Gemeinden bezahlt werden. Die anderen mĂĽssen sich weitere Einkommensmöglichkeiten suchen. Vielleicht ist das auch unsere Zukunft, wenn ich daran denke, dass schon mein Vater in den dreiĂźiger Jahren des vorigen Jahrhunderts zusätzliches Geld als Volksschullehrer verdienen musste, weil ihm die kleine deutsche Gemeinde in Nõmme bei Tallinn nicht genug geben konnte.

Deshalb hat sich die EELK heute vorgenommen, dieses Problem energisch anzugehen. Es soll in Nachfolge eines nordelbischen Projektes ein gesamtkirchlicher Besoldungsfonds errichtet werden, gespeist aus Immobilieneinnahmen und Spenden, der in Zukunft den Pastoren und Mitarbeitern ein Mindestgehalt von ca. 3000 EEK (200 EUR) sichern kann. Das Durchschnittseinkommen liegt heute in Estland bei 5000 EEK. Es bleibt also noch viel fĂĽr die Partner der EELK zu tun, vor allem der gegenseitige Austausch und die Ermutigung zum Glauben als bleibende ökumenische Herausforderung an einer Grenze zwischen Ost und West. Das wohl VerheiĂźungsvollste neben der Ausbildung sind die Gemeindepartnerschaften. Meine Frau und ich sagen immer wieder: »Estland ist und bleibt die wichtigste Erfahrung in unserem Leben.«

 

Paul-Gerhard von Hoerschelmann war bis 1994 u.a. Direktor des Prediger- und Studienseminars Breklum.


Auszug aus dem »Lutherischen Dienst« 2/2007, Sondernummer »Estland«. Wenn Sie die weiteren Artikel mit Berichten ĂĽber Sängerfeste und Kirchentage in Estland, ĂĽber die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in der EELK, ĂĽber estnische Landgemeinden oder die theologische Ausbildung in Tallinn und Tartu lesen möchten, bestellen Sie den Â»Lutherischen Dienst« kostenlos.