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Aktuelle Meldung



23.03.2016 - Kategorie: LD online

LD online: Die kleine Herde hat sich wieder zusammengefunden




Was Kiew und Sachsen-Anhalt verbindet

 

Auszug aus dem »Lutherischen Dienst« 1/2016



Lutherischer Dienst 1/2016

Sie erhielten beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten von der Körber-Stiftung Hamburg den Förderpreis für ihre Arbeit: Ramila Guliyewa, Iwan Dawydenko und Jehor Wasiukhno (v.?l.) von der Spezialschule Nr. 14 in Kiew (oben) und Julia-Marie Spichale vom Europagymnasium »Walther Rathenau« in Bitterfeld-Wolfen (Sachsen-Anhalt), die unten bei der Preisverleihung mit Johanna Lemke-Prediger aus Węgry/Polen, der Tutorin für die Arbeit, zu sehen ist.

Julia-Marie Spichale vom Europagymnasium »Walther Rathenau« in Bitterfeld-Wolfen (Sachsen-Anhalt) und Ramila Guliyewa, Iwan Dawydenko und Yehor Wasiukhno von der »Spezialschule Nr. 14, mit erweitertem Deutschunterricht ab der 1. Klasse« in Kiew (Ukraine), begaben sich gemeinsam auf Spurensuche. Unter dem Thema »Trotz Verfolgung und Verbot hat sich die ›kleine Herde‹ wieder zusammengefunden. Was Kiew und Sachsen-Anhalt verbindet« erforschten sie die 250-jährige Geschichte der deutschen evangelisch-lutherischen Gemeinde St. Katharina in Kiew (Ukraine). Sie nahmen teil am Geschichtswettbewerb der Körber-Stiftung Hamburg 2014/2015 um den Preis des Bundespräsidenten »Anders sein. Außenseiter in der Geschichte« und wurden belohnt mit dem Förderpreis des Landes Sachsen-Anhalt. Die Tutorin, Johanna Lemke-Prediger aus Turawa/Polen, schickte das lesenswerte Dokument an den Martin-Luther-Bund.

 

Was haben junge Leute zur sie miteinander verbindenden alten und jungen Geschichte zu sagen? Julia-Marie, Ramila, Iwan und Yehor haben sich auf die Spuren einer nationalen und religiösen Minderheit mitten in Europa begeben und dabei erstaunliche Entdeckungen gemacht. Wir geben ihre Aufzeichnungen in Auszügen wieder.

 

Frieden, Freiheit und Freundschaft: Ein gemeinsamer Arbeitsbericht

 

Frieden, Freiheit, Freundschaft und ein Zuhause sind Kostbarkeiten aller Menschen auf der Welt. Immer wieder sehen wir im Fernsehen und im Internet, was die Verletzung dieser »Schätze der Völker« anrichtet. Sinnlose Kriege, Zerstörung von Städten und Dörfern, Vernichtung von Regionen mit der Existenzgrundlage der Bevölkerung, Mord an Unschuldigen, Vertreibung und Flucht. Aufrufe zum Helfen kommen wir selbstverständlich nach, aber alles scheint dennoch weit weg zu sein. Im Februar 2014 war alles ganz anders: Bilder aus Kiew vom Maidan! – Alles wurde für uns jetzt sehr persönlich, denn hier wohnen unsere besten Freunde, Natascha und ihre Mutter Vera, zwei Deutschlehrerinnen, die für uns zur Familie gehören.

Wir kennen ihre Sorgen und Probleme, und wir teilen mit ihnen Glück und Freude: Vor etwa 30 Jahren besuchten Schülerinnen und Schüler aus Bitterfeld mit ihren Lehrern und Eltern die herrliche Stadt Kiew mit ihren historischen Bauwerken und besichtigten das Denkmal für das »Magdeburger Recht«. Höhepunkt war der Besuch einer Schule mit erweitertem Deutschunterricht. Die Verständigung war problemlos, weil sie dort alle perfekt Deutsch sprachen und die Bitterfelder ihr schlechtes Russisch nicht brauchten. Danach entwickelte sich ein vielfältiger Briefwechsel mit Schülern und Lehrern. Freundschaften (nicht verordnet!) entstanden, die sich auf Kinder und Enkel übertrugen, die bis heute Bestand haben. Auf diese Weise lernte ich Natascha kennen. Sie hat sich nach den Folgen der Tschernobyl-Katastrophe förmlich zurück ins Leben gekämpft. Kaum zu glauben, dass sie als junge, selbstbewusste Deutschlehrerin nun die Nachfolge ihrer Mutter angetreten hat. Außerdem engagiert sie sich für eine friedvolle Entwicklung der Ukraine. Deutsche sind für sie gute Nachbarn und liebe Freunde. Im Dezember 2013 haben wir Natascha noch in Wittenberg besucht, wo sie am Fortbildungskurs des Pädagogischen Austauschdienstes »Methodik und Didaktik Nr. 5« teilnahm. Die Welt in Kiew war damals noch in Ordnung. Nun waren wir sehr besorgt, wie Natascha und ihre Familie diese schwere Zeit überstehen würden. Und wir versuchten zu helfen.

Überglücklich waren wir, wenn wir positive Nachrichten erhielten. Erstaunt erfuhren wir, dass sich ein deutscher evangelischer Pastor, Ralf Haska, auf dem Maidan zwischen die Fronten stellte und vermittelte. Erstmalig hörten wir durch Natascha, dass es in Kiew eine deutsche evangelisch-lutherische Gemeinde gibt, deren Gotteshaus Sankt Katharina schon 250 Jahre besteht. In keinem unserer alten Reiseführer konnte ich darüber etwas lesen. Dann kam im September 2014 der Aufruf des Bundespräsidenten, auf »Spurensuche« zu gehen! »Anderssein« – das traf für die Kiewer Schüler genau den Punkt, der ihr Interesse für die deutsche Minderheit und ihren Pastor geweckt hatte. Natascha und ihre Schüler überzeugten mich mit »sanfter« Gewalt, am Wettbewerb 2014/15 teilzunehmen. Einmal, um diese kleine tapfere Herde von Sankt Katharina und ihren Pastor zu würdigen, und zum anderen herauszukriegen, warum Deutsche vor 250 Jahren in Kiew zugewandert sind. Nach ihrem Seminar in Wittenberg wusste Natascha, dass 500 Jahre Reformation (1517 bis 2017) ihre Schatten schon vorauswarfen. Und sie schlussfolgerte: Wittenberg ist von Bitterfeld nur einen »Katzensprung« entfernt. Da müsste man mit einer »Spurensuche« fündig werden. Das war der Beginn unserer gemeinsamen Forschungsarbeit. Gerungen und gestritten wurde über Internet über den Inhalt (Gliederung). Die Kiewer ­Gruppe war mehr auf Gegenwart als auf Vergangenheit eingestellt. Durch schöpferischen Streit haben wir fast einen Monat verloren. Aber aufgegeben wurde nicht. Ich ging mit meiner Familie an die Arbeit, ausgerüstet mit dem »Ausweis der Körber-Stiftung«. Erstaunlich, dass so ein kleines »amtliches Dokument« Türen öffnet und interessante Gespräche ermöglicht. Zerbst und Köthen besuchten wir erstmalig, in Wittenberg und Halle/Saale waren wir schon öfters. Die Ergebnisse kann man nachlesen. Es ist schon seltsam: Während die Ukraine und russische Separatisten in kriegerische Auseinandersetzungen mit­einander verwickelt sind, sind wir in friedlicher Mission unterwegs. Die Zuarbeiten aus Kiew waren interessant und spornten mich immer wieder an, fleißig zu sein. Mit Stolz konnten wir feststellen, dass Sachsen-Anhalt und die Ukraine eine historische Verwandtschaft verbindet.

 

Wie so oft: »Kleine« Welt gegen »große« Politik

 

Zuwanderung gab es schon vor 250 Jahren, die der Stadt Kiew wirtschaftliche und kulturelle Bereicherung brachte, den Deutschen aber Achtung, Anerkennung und Reichtum. Sie behielten trotz ihrer Zugehörigkeit zum öffentlichen Leben ihre Identität und ihre Religion. Zeitweise war ein deutscher Wissenschaftler sogar Bürgermeister von Kiew. Das Zusammenleben war von gegenseitiger Achtung und Toleranz gekennzeichnet. Trotzdem kämpfte die deutsche Minderheit ständig um verbriefte Rechte und den Schutz durch die Obrigkeit. Es war ein ständiges Geben und Nehmen. Zwischen den Menschen (Ukrainer, Russen und Deutsche) war die »kleine« Welt in Ordnung, bis die »große« Politik (Erster Weltkrieg, Sowjetunion, Zweiter Weltkrieg) das friedliche Zusammenleben zerstörte. Wirtschaftlicher Niedergang war speziell in der Stalinzeit die Folge für die gesamte Bevölkerung. Die deutsche Kultur, die zum öffentlichen Leben in Kiew gehörte, ging verloren, weil die Träger dieser Kultur ermordet oder vertrieben wurden. Doch Geschichte lässt sich nicht auslöschen. So erfolgte 1989 eine Wiedergeburt der deutschen evangelisch-lutherischen Gemeinde. Als nationale und religiöse Minderheit mit ihrem Pastor an der Spitze hat sie ihren christlichen Auftrag zur Verständigung und Versöhnung erfolgreich wahrgenommen. Viele Kiewer haben jetzt erst erfahren, dass es die deutsche Volksgruppe gibt und diese einer anderen Religionsgemeinschaft angehört. So hoffen wir, dass unsere Arbeit mit dazu beiträgt, dass man sich auf die alten bewährten Erfahrungen besinnt und ein friedliches Miteinander aller Bürger der Ukraine anstrebt, unabhängig von ihrer Nationalität und Religion. Den Völkern geht es immer gut, wenn sie friedlich und demokratisch miteinander umgehen.

 

Was Sachsen-Anhalt mit Kiew ­verbindet: Das Denkmal für das »Magdeburger Recht« in Kiew

 

In Kiew gibt es einen Ort als Symbol sachsen-anhaltinisch-ukrainischer Geschichte – das Denkmal für das »Magdeburger Recht«. Im 12. und 13. Jahrhundert gehen fast alle Städtegründungen in Europa darauf zurück. Die östlichsten Gründungen waren 1356 Lemberg und 1494 Kiew, danach folgten weitere im gesamten Land. Der Wunsch zum Bau des Denkmals kam von der Kiewer Kaufmannschaft, die auch die Finanzierung übernahm. Die Weisung zum Bau erteilte Zar Alexander I., der auch 1802 die Wiedereinführung des »Magdeburger Rechts« veranlasste. Architekt des Denkmals war der Ukrainer Andrei Meleniski. Der Bau dauerte von 1802 bis 1808.

Das Denkmal für das »Magdeburger Recht« gilt als das älteste Denkmal in der ukrainischen Hauptstadt Kiew und ist auch als Denkmal für die Taufe der Kiewer Rus bekannt, denn es wurde ungefähr an der Stelle aufgestellt, wo Wladimir seine Söhne taufen ließ.

 

Zar Peter der Große in Wittenberg und Torgau

 

Peter der Große beschäftigte sich zeitlebens mit der Lehre von Dr. Martin Luther. So reiste er 1711 von Torgau über Herzberg nach Wittenberg. Er besuchte Luthers Wohnstube im Augustinerkloster, das erste Luthermuseum der Welt. Der Zar verewigte sich mit Kreide an der Wohnzimmertür. Heute ist das wertvolle Autogramm unter einer Glastafel geschützt.

 

Eine Prinzessin aus Anhalt-Zerbst wird russische Zarin

 

Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst verlässt im Winter 1744 zusammen mit ihrer Mutter die Heimat, um über Berlin nach Sankt Petersburg und Moskau zu reisen. Die Einladung erfolgte von der kinderlosen Zarin Elisabeth. Die Prinzessin aus Zerbst sollte ihren Großcousin und Neffen der Zarin, Karl Peter Ulrich von Holstein-Gottorp, heiraten. Nach seinem Tod wird sie 1762 als Zarin Katharina II. gekrönt. Sie ist die einzige Herrscherin, die den Beinamen »die Große« bekam. Sie lockte später Deutsche ins Land. Sie versprach Landerwerb, Arbeits- und Entfaltungsmöglichkeiten sowie Glaubensfreiheit und Befreiung vom Militärdienst. Sie erwartete dafür wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Aufschwung für ihr rückständiges Land. Es galt »Fenster und Türen nach Europa zu öffnen«.

1834 wurde in Kiew die erste Universität eröffnet, vorwiegend mit deutschen Lehrkräften. Dadurch vergrößerte sich die evangelisch-lutherische Gemeinde wieder.

Mehr durch Zufall bekamen die Lutheraner eine interessante Einnahmequelle. Sie führten sozusagen das erste und einzige »Beerdigungsinstitut« in Kiew. Das kam so: Nur die Lutheraner besaßen einen feierlich-würdigen Leichenwagen, mit schwarzer Bespannung, sogar die Pferde hatten Trauerschmuck. Die Sargträger trugen einheitliche schwarze Umhänge und Kopfbedeckungen. Die Kiewer Bürgerschaft benutzte das lutherische Gefährt, um ihren verstorbenen Angehörigen den letzten Weg würdevoll zu gestalten. Die Lage auf dem steilen Berg erforderte die Anlage einer befestigten Straße, die speziell in den witterungsungünstigen Jahreszeiten gepflegt und instand gesetzt werden musste. Sie bekam den Namen »Lutherstraße« (heute: »Luteranska«).

 

Die historische Entwicklung der deutschen evangelisch-lutherischen Gemeinde und der Bau der Kirche Sankt Katharina in Kiew

 

Berühmt und geachtet war in Kiew der deutsche Apotheker Friedrich Bunge. Er war lutherischen Glaubens, hatte es zu Wohlstand gebracht und wohnte in einem ansehnlichen Privathaus. Noch heute kann man es besuchen und bewundern. Es ist das einzige Apothekenmuseum in der Ukraine. Zwölf Kinder wuchsen in dieser Familie auf, zusammen mit den Hausangestellten bildeten sie die erste lutherische Gemeinde in Kiew. Der deutsche Hauslehrer war der lutherische Pastor Christoph Leberecht Grahl (1744–1799). Ab 1766 fanden im Wohnhaus des Apothekers die ersten deutschen Gottesdienste statt. Bald war es der wichtigste Treffpunkt der Lutheraner, und der Platz reichte nicht mehr aus. Man musste sich ein eigenes Gotteshaus bauen. Am 12. November 1794 wurde im Kiewer Stadtteil Podil als erste lutherische Kirche ein hölzernes Kirchlein geweiht. Es bekam den Namen nach seiner Patronin Katharina der Großen – Sankt Katharina.

 

Der Erste Weltkrieg: Deutschland wird zum feindlichen Ausland für das Russische Reich

 

Längst war für die deutschen Lutheraner Kiew zur Heimat geworden, die jüngeren Generationen sind hier geboren und wurden in Sankt Katharina getauft. Die Kinder wuchsen zweisprachig auf. Es wurde untereinander geheiratet.

Der Enkel des evangelischen Pastors Justus F. Eismann, der 1864 geborene Gustav Adolph Eismann, Professor der Rechtswissenschaften an der Kiewer Universität, wurde von der Bürgerschaft zum Stadtoberhaupt gewählt. Ein evangelischer Deutschstämmiger – mehr Toleranz konnte man nicht erwarten. Nicht Religion oder Nationalität zählten, sondern Vertrauen in die Fähigkeiten und die Eignung für das Amt.

Für nationale Minderheiten sind Krieg und revolutionäre Umwälzungen immer eine Gefahr. Das hat sich bis heute nicht geändert. 1914 traf es auch die Deutschen in Kiew: Plötzlich wurde das Deutsche Kaiserreich zum feindlichen Ausland. Russische und ukrainische Nationalisten wollten nichts mehr mit den deutschen Mitbürgern zu tun haben. Man verdächtigte sie der Spionage. Die Lebenssituation verschlechterte sich für die Deutschen. Der evangelische Pastor Heinrich Junge (seit 1909 im Amt) hielt dem Druck nicht mehr stand und reiste 1915 nach Berlin aus. Hunger und Not als Auswirkung des Krieges trafen alle Bewohner, die Deutschen hatten dazu auch Ansehen und Freunde verloren. Aber nicht das Leben! Mit dem Ende des Krieges hoffte man auf bessere Zeiten, aber es sollte noch schlimmer kommen und unvorstellbar schrecklicher.

 

Die religionsfeindliche Politik des Sowjetstaates

 

Der 70. Jahrestag zur Erinnerung an die Massendeportationen Zehntausender Deutschen in den Fernen Osten zeigte, dass die grausame und ungerechtfertigte Vertreibungspolitik Stalins die Menschen in den Gebieten der früheren Sowjetunion bis heute bewegt. Es wurde darauf aufmerksam gemacht, dass Vertreibungen wirtschaftlichen Schaden bringen. Sie sind ein völkerrechtliches Verbrechen und bringen vor allem unschuldigen Menschen großes Leid. Eine alte, zum Land gehörende Kultur wurde zerstört, denn die Menschen sind Träger dieser Kultur. 1919 wurde die Sankt-Katharina-Kirche vom Staat beschlagnahmt, aber bis 1937 fanden dort noch Gottesdienste statt. Nach Stalins Machtantritt begann ein unbeschreiblicher Terror! Die Vertreibung und die Deportationen der sogenannten Kulaken hatte eine beispiellose Hungersnot zur Folge. Der ­letzte evangelische Pastor in Kiew Johann Göring, seit 1929 im Amt, stammte aus Alexanderhof im Gouvernement Jekatarinoslaw und wurde 1935 verhaftet. Er wurde zum Tode verurteilt, dann zu zehnjähriger Verbannung nach Karelien »begnadigt«. Bei Schwerstarbeit erblindete er und starb den Hungertod. Als Märtyrer seines Glaubens wird er von der heutigen Gemeinde in Kiew betrauert und verehrt. Nach den Verfolgungen und Verhaftungen wurde die Gemeinde immer kleiner, und viele Christen blieben ihr aus Angst fern. Im April 1938 gab man die Auflösung der Gemeinde bekannt. Wenigstens zerstörten die Sowjets das Kirchengebäude nicht wie andere Kathedralen und Kirchen im ganzen Land. Die weitere Nutzung des Kirchengebäudes war weltlich und abwechslungsreich: Klubhaus der kämpfenden Atheisten, Lagerhaus für Treibstoff, Brenn- und Schmiermittel und ab 1972 Volkskundemuseum der Ukraine. Die Zeit als Museum hat die bauliche Substanz der Kirche gerettet, während die Inneneinrichtung der Kirche verschwand.

 

Neuanfang im Jahre 1989 und die Bemühungen um die Rückgabe des Kirchengebäudes an die Gemeinde

 

Die demokratischen Veränderungen in der Sowjetunion Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre ermöglichten es, dass sich die »Sowjetdeutschen« und damit auch die Angehörigen der evangelisch-lutherischen Kirche wieder organisieren durften. Es entstand die deutsche Gesellschaft »Wiedergeburt«. Sprache, Religion und verlorengegangene Traditionen sollten wiederbelebt werden. Weitere Ziele waren die Rückgabe der Kirche und die Neugründung der evangelisch-lutherischen Gemeinde. Zwei ak­tive Lutheranerinnen waren Ida Welsch (geb. 1919), sie stammte aus dem Wolgagebiet, war dort noch getauft und konfirmiert worden, und Diana Jewdokimenko (geb. 1928). Sie trafen sich im November 1989 in Riga mit Bischof Harald Kalninš, der ihnen wichtige Hinweise zur Gründung der Gemeinde gab. Wichtig war die Unterschriftensammlung von 42 Mitgliedern der Gesellschaft »Wiedergeburt«, mit der die Gemeinde schließlich registriert wurde. Schon 1991 stellte das Museum kostenlos Räume für Gottesdienste zur Verfügung. Der erste Prediger war Konstantin Mamberger, ein Seminarist aus Riga. Ida Welsch erinnert sich: »Die Einladung zum Gottesdienst erfolgte per Telefon. Die Wache des Museums musste informiert werden. Stühle borgte eine nahegelegene Schule. Das Leninbild wurde während des Gottesdienstes umgedreht.« Im Mai 1992 war mit der Einstellung des ersten Pastors, Martin Nägelsbach aus Augsburg, der Prozess der Neugründung der Gemeinde abgeschlossen. Jetzt konnten die Organisation des Gemeindelebens und der Kampf um die ­Rückgabe des Kirchengebäudes beginnen. Ideelle und materielle Hilfe kam aus Deutschland. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, Dekanat München, übernahmen die Patenschaft über die St.-Katharina-Gemeinde Kiew. Viele Persönlichkeiten setzten sich für die Rückgabe des Kirchenvermögens ein, so u.?a. der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl bei seinem Staatsbesuch in der Ukraine 1993. Sehr engagiert zeigte sich auch der ehemalige Oberbürgermeister von München, Christian Ude (SPD). 1998 besuchte der damalige Bundespräsident Roman Herzog die Ukraine und nahm in Kiew an einer evangelischen Andacht in der Kirche teil. Das Museum bekam eine Abfindung vom Staat und ein neues Zuhause.

Unvergesslich ist für die Gemeinde der Gottesdienst am Ersten Advent, dem 29. November 1998, als nach fast 80 Jahren der Gottesdienst wieder im eigenen Gebäude stattfand.

 

Eindrücke vom Reformationsgottesdienst am 31. Oktober 2014

 

Ramila: »Der 31. Oktober ist der Reformationstag, und wir besuchten an diesem Tag den Gottesdienst in der evangelischen Kirche. Ich war schon in Deutschland in einer evangelischen Kirche gewesen, deshalb hatte ich bereits eine Ahnung davon, dass sich die evangelischen und die orthodoxen Kirchen etwas voneinander unterscheiden, von außen und im Innern auch. Evangelische Kirchen sind einfacher eingerichtet, ohne Gold und Glanz wie die orthodoxen Kirchen. In Sankt Katharina in Kiew sieht auch alles einfach aus. Und die Atmosphäre ist sehr freundlich. Hier sind alle froh. Wir haben Gläubige verschiedenen Alters sowie Kinder gesehen. Wir haben mit mehreren Leuten gesprochen. Die meisten von ihnen besuchen die Kirche sehr oft, weil für sie dieser Ort Hilfe und Unterstützung ist. Einige fühlen sich hier freier und geistig reifer. Wir haben mit einer Frau gesprochen, die diese Kirche schon 22 Jahre lang besucht. 22 Jahre des Glaubens und des Vertrauens! Für sie ist die Kirche ein Ort, an dem sie ihre Fehler bekennen und beten kann. Der Student Wladimir sagt, dass die Kirche sein zweites Zuhause ist.«

Iwan: »Es hat mir sehr gefallen, als Pastor Haska den Leuten Frieden wünschte und alle dann einander die Hände drückten. Zu uns kamen auch ganz unbekannte Menschen, sie lächelten und drückten uns die Hände und wünschten uns Frieden. Und wir haben gedacht, dass heute diese Worte von besonderer Bedeutung für uns sind. Das war ein ungewöhnliches Gefühl, das Gefühl der Einigkeit, Freundlichkeit, menschlicher Zuwendung, Menschlichkeit. Wir fühlten uns nicht mehr als Fremde.«

Yehor: »Als wir die Kirche verließen, war draußen ein Gewimmel: In der Hauptstraße wurde Halloween gefeiert. Und ich habe gedacht: Wie verschieden sind die Menschen! Nach der Kirche war das eine ganz andere Welt, ein anderer Planet. Und ich habe gedacht, dass wir so viel Positives in der Kirche bekommen haben, und diese bemalten Gesichter und ›lustigen‹ Grimassen kaum etwas Positives bringen, obwohl das für jedermann auch ein lustiges Fest ist. Ich ging und dachte an die Leute, die wir heute kennengelernt und vor dem Gottesdienst kurz gesprochen haben. Das waren verschiedene Leute verschiedenen Alters, aber sie haben dieselben Lebenswerte. Besonders gefiel mir Jugenddiakon Igor Schemigon. Er ist aufmerksam und hilfsbereit, sehr freundlich, wie auch die ganze Atmosphäre in der Kirche.«

 

Was wir gelernt und wie wir uns verändert haben

 

Die kleine deutsche evangelisch-lutherische Gemeinde von Sankt Katharina hat gezeigt, dass das harte Schicksal sie stärker gemacht hat, um für Versöhnung und friedliches Miteinander einzutreten. Wir sind beeindruckt vom »stillen Heldentum« von Pastor Haska und seiner kleinen Gemeinde und sind glücklich, dass Julia-Marie, obwohl wir sie persönlich nicht kennen, mit uns an diesem Thema gearbeitet hat. »Die Welt ist ein Dorf« – wir sind überrascht, dass uns so viele historische Brücken mit Sachsen-Anhalt verbinden. Durch die freundschaftlichen Begegnungen mit Pastor Haska und seiner Familie sowie mit Gemeindemitgliedern von Sankt Katharina sind wir in eine »neue Welt« eingetaucht. Obwohl wir in einer Stadt leben, waren die deutschen evangelischen Christen für uns unbekannte Wesen. Jetzt sind sie für uns Kiewer, die mit uns wie in einer Familie leben. Wir sind auch der Stiftung und unseren deutschen Tutoren dankbar, dass wir die evangelisch-lutherische Kirche entdeckt und viele gute Leute kennengelernt haben. Jetzt arbeiten wir mit der Kirche St. Katharina und Pastor Haska zusammen: Wir organisieren humanitäre Hilfe für das Rehabilitationszentrum in der Stadt Nowoaidar und für die ukrainischen Soldaten im Osten der Ukraine. Wir sind auf solche Freundschaft stolz. Ralf Haska ist unser Vorbild. Er lehrt uns hilfsbereit, menschlich und offen zu sein. Unvergesslich bleibt für uns auch der Besuch von Familie Haska in unserer Schule, der Spezialschule Nr. 14.

 

Auszug aus dem »Lutherischen Dienst« 1/2016. Wenn Sie die weiteren Artikel lesen möchten – etwa über die Lutherische A.B. Kirche in der Republik Moldau, die Neujahrsbotschaft des Generalsekretärs des Lutherischen Weltbundes oder die lutherische Gemeinde in Rom und den Papstbesuch dort –, dann bestellen Sie den » Lutherischen Dienst kostenlos.

 

» St. Katharina in Kiew (GoogleMaps)